Turnaround im Krankenhaus – geht das?
Interview: Evangelisches Krankenhaus Oldenburg
Interview mit Dr. Alexander Poppinga, Vorstand, und Christian Gutendorf, Kaufmännischer Direktor im Evangelischen Krankenhaus Oldenburg.
Seit Dr. Alexander Poppinga im Jahr 2012 zum Evangelischen Krankenhaus Oldenburg kam, legte das Haus eine rasante Entwicklung an den Tag. Wie er es schaffte, in wenigen Jahren aus dem Haus, das damals knapp vor der Insolvenz stand, einen Vorzeigebetrieb zu machen, die Case Mix-Punkte und den Umsatz nahezu zu verdoppeln sowie die Erlöse zu stabilisieren, darüber unterhielten wir uns mit ihm als Vorstand sowie dem kaufmännischen Direktor Christian Gutendorf während eines Workshops zum Thema Erlösverteilung in der TIP HCe-Entwicklungszentrale in Graz.
Dr. Poppinga, wie stellte sich die Situation im Evangelischen Krankenhaus Oldenburg dar, als Sie im Jahr 2012 dort als Medizincontroller Ihre Arbeit aufnahmen?
Dr. Poppinga: Als ich 2012 als Medizincontroller zum Unternehmen kam, war nicht klar, in welcher Lage sich das Evangelische Krankenhaus befand. Zu dem Zeitpunkt war ein völlig überzogenes Neubauprojekt geplant, dessen Annuität das Haus umgebracht hätte. Dazu kamen extrem hohe Planungskosten, ein schwammiges Leistungsportfolio, diverse Prozess-Schwächen sowie eine unklare Führungsstruktur, was beinahe in der Zahlungsunfähigkeit resultierte. Es war dringend an der Zeit, notwendige Sanierungsmaßnahmen und Restrukturierungen zeitnah umzusetzen.
Was hat sich im Bereich der Führungsstruktur getan?
Dr. Poppinga: Nach dem Eintritt des neuen Vorstands, Herrn Armin Sülberg, im Jahr 2013 wurde die unklare Führungsstruktur verändert und ein klassisches hauptamtliches Direktorium eingeführt, mit einem kaufmännischen Direktor, einem Pflegedirektor sowie meiner Person als medizinischem Direktor, der auch die Medizinökonomie verantwortet.
Was war Ihre Strategie für die notwendige Umstrukturierung und Sanierung?
Dr. Poppinga: Wir begannen bei der Erlösseite und der Leistungserbringung. Um die Erlösseite zu verbessern, beschlossen wir, uns auf Teilbereiche mit unseren Kernkompetenzen zu fokussieren, d.h. diese zu stärken und auszubauen, und uns von Bereichen zu trennen, die nicht zu unserem Kernspektrum gehören. Wir sind ein Neuro-, Kopf- und Traumazentrum und bilden im Rahmen der European Medical School in diesem Bereich auch Studenten aus. Wir beschlossen, in diesen Bereich zu investieren und unsere Expertise durch die Einführung neuer Technologien zu stärken. Beispielsweise veränderten wir die Neurologische Früh-Rehabilitation. Wir verlegten den Fokus von nicht-intensivpflichtigen zu intensivpflichtigen Patienten und konnten dadurch den Erlös deutlich erhöhen. Dies erforderte aber natürlich auch einen immensen Aufwand in den Bau neuer Intensivstationen und den Aufbau von Personal. Ein weiteres von mehreren Beispielen ist der Aufbau der Expertise der ECMO-Therapie für Patienten mit einem schweren akuten Lungenversagen. Anders als in damaligen Gutachten vorgeschlagen, haben wir uns in einer Situation mit einem 10 Millionen-Euro-Defizit also nicht gesundgeschrumpft, sondern ganz bewusst 2 Millionen Euro investiert.
Durch den Aufbau der Intensivstrukturen in unseren Fachrichtungen entwickelten wir uns zum selektiven Maximalversorger mit Fokussierung auf high-level-medizinische Versorgung, akut notwendige Notfallmedizin und high-end-Intensivmedizin. Was wir machen, machen wir auf höchstem Niveau. Bereiche wie Geriatrie, für die wir in unseren alten Gebäuden keine ideale Infrastruktur besitzen, und Rheumatologie entfernten wir aus unserem Leistungsangebot.
Wie haben sich diese Strukturänderungen auf die Erlöse ausgewirkt?
Dr. Poppinga: Wir konnten unser Leistungsvolumen von knapp 16.000 auf über 27.000 Case Mix-Punkte steigern. Und das mit den gleichen Fachrichtungen wie damals. Den Umsatz konnten wir um 63 % steigern und das Ergebnis von 10 Millionen Euro Verlust auf einen siebenstelligen Euro-Gewinn im Jahr 2018 drehen.
Was für Auswirkungen hatte die Bereinigung Ihres Leistungsangebotes auf die Oldenburger Bevölkerung?
Dr. Poppinga: Die drei Oldenburger Krankenhäuser sprechen sich seit Jahren ab, wie die Leistungsstruktur innerhalb der Stadt aussieht. Diese Vorgehensweise wird auch das „Oldenburger Modell“ genannt und ist ein Vorzeigemodell für regionale Gesundheitspolitik. Wenn ein Haus Veränderungen im Leistungsangebot vornimmt, wird das gemeinsam besprochen, sodass die Versorgungsqualität der Bevölkerung sich nicht nur nicht verschlechtert, sondern sogar verbessert. Dieses gemeinsame Vorgehen zum Wohle der Bevölkerung ist uns ganz wichtig. So können die PatientInnen, die davor zu uns in die Geriatrie oder zur ambulanten Rheumatherapie gekommen waren, nun in den anderen Häusern effizienter und besser behandelt werden.
Welche Sanierungsmaßnahmen wurden abseits der Erlös- und Leistungsseite in Angriff genommen?
Dr. Poppinga: Unsere nächste Aufgabe war, die Kosten in den Griff zu kriegen. Als 2015 der Posten des kaufmännischen Direktors neu zu besetzen war, kam Herr Gutendorf zu uns. Die akut schwierige Phase war gerade vorbei, aber das Ergebnis noch negativ, wobei die Vorzeichen sich aufgrund der Erlössteigerungen schon verbessert hatten.
Herr Gutendorf: Das Unternehmen befand sich, als ich 2015 einstieg, noch in einer Phase der Sanierung und schon in einer Phase des Wachstums. Da war es ganz wichtig, dass sich die Strukturen auch konsequent weiterentwickeln, um das Ziel der langfristigen Konsolidierung zu erreichen. Ein zentrales Element für die Steuerung der Kosten war ein aktuelles Berichtswesen. Und da kam TIP HCe ins Spiel. Das System wurde bereits 2014 eingeführt. Damals wurde innerhalb von nur zwei Wochen eine Bereichsrechnung in der Cloud erstellt. Damit war ein erster Schritt zu Kosten- und Erlöstransparenz auf Abteilungsebene getan. Im Lauf des Jahres 2015 wurde dann das gesamte Berichtswesen in TIP HCe neu aufgebaut. Dabei wurde es an aktuelle Bedürfnisse angepasst, vor allem was die Kosten anbelangte.
Besonders genau nahmen wir die Personalkosten unter die Lupe, die den überwiegenden Teil unserer Gesamtkosten ausmachten. Um da die Balance zu finden zwischen Wirtschaftlichkeit mit guter Leistung und Auslastung ohne Überlastungen, ist ein detailliertes Monitoring nötig.
Welchen Benefit brachte TIP HCe Ihnen im Rahmen der Unternehmenssanierung?
Herr Gutendorf: Ein Klinikmanagement kann nur erfolgreich sein, wenn es einen möglichst aktuellen und realen Überblick über die Gesamtsituation des Hauses gibt. Das Berichtswesen in TIP HCe ist daher ein entscheidendes Instrument für unser unternehmerisches Handeln. Es lieferte uns während der Sanierungsphase die nötigen Grundlagen für unsere Entscheidungen. Und das ist auch jetzt noch so. Management-Dashboards mit 12 oder 16 Parametern zeigen uns wöchentlich, wie es gerade um das Unternehmen steht. Wir nutzen TIP HCe aber nicht nur für die laufende Steuerung des Unternehmens Krankenhaus, sondern darüber hinaus auch für die Ermittlung des Kapitalbedarfs für zukünftige Investitionen. Das System wird auch noch laufend erweitert. Im Moment denken wir an die Umsetzung eines Management-Cockpits mit Power BI für eine noch flexiblere Visualisierung der Risikoparameter für die Unternehmensführung.
Wie unterstützte TIP HCe Sie dabei, die Kosten in den Griff zu bekommen?
Dr. Poppinga: Durch die Bereichsrechnung konnten wir die Kosten und Erlöse in den Fachabteilungen transparent machen. Die intensive Betrachtung der Kostenseite führte dazu, dass Chefärzte spezifisch für ihre Klinik nachvollziehen konnten, welche Erlöse sie generieren und welche Kosten sie produzieren. Diese neue Transparenz resultierte automatisch darin, dass die Ausgaben im Blick gehalten wurden. So gab es zwar Ausweitungen im Bereich der Leistungsmengen in manchen Bereichen wie Labor oder Arzneimittel, aber es wurde darauf geachtet, wofür Geld ausgegeben wurde, und auch hinterfragt, ob das notwendig ist. Beispielsweise wurden einzelne Laborparameter, die standardmäßig erhoben wurden, aber gar nicht State of the Art waren, eingestellt. Diese einfache Änderung, die zu keinerlei Leistungs- oder Qualitätseinbußen führte, erzielte alleine Einsparungen von 10-15 %.
Wie verteilen Sie für die Bereichsrechnung die Erlöse auf die Fachbereiche?
Herr Gutendorf: Durch die Forcierung von Transparenz im Berichtswesen auf der Erlös- und auch auf der Kostenseite entwickelten die Chefärzte ein verschärftes Interesse an Erlösgerechtigkeit. Aus Zeitmangel verwendeten wir anfänglich die Verteilungslogik nach der Methode DDMI, um Erlöse, die nicht zu verteilen sind, doch zu verteilen. Diese interimistische Lösung, bei der der Erlös zur Gänze der entlassenden Fachabteilung zugeordnet wird, führte aber bald zu Widerständen bezüglich der Verlegung von Patienten auf andere Fachabteilungen.
Dr. Poppinga: Wir mussten daher die Erlösverteilung nach einer hausinternen Verteilungsmethode neu aufsetzen, um individuelle Gegebenheiten und Bedürfnisse der Fachabteilungen berücksichtigen zu können. Unser Ziel ist, Erlös- und Kostengerechtigkeit transparent zu machen. Die Abbildung der Besonderheiten der einzelnen Abteilungen erhöht die Akzeptanz unter den Chefärzten und ist Voraussetzung, dass das System funktioniert. Mit der Erlösverteilung in TIP HCe gibt es ein technisches Instrument, um alle unsere Besonderheiten abzubilden und die Verteilung gerechter zu gestalten. Die Verteilung wird in der nächsten Zeit kontinuierlich noch immer weiter verbessert und verfeinert.
Was konnten Sie auf der Prozess-Ebene bewegen?
Dr. Poppinga: Als ich im Haus anfing, hatte die dramatische finanzielle Lage vielschichtige Ursachen, die auch über einen längeren Zeitraum entstanden waren – lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Es wurde nicht auf eine zeitnahe Fakturierung und die Einhaltung der Zahlungsziele geachtet. Beispielsweise wurde bei der jährlichen Umstellung der DRG-Kataloge die Fakturierung einfach für einen Monat eingestellt. Daraus resultierte dann fast die Zahlungsunfähigkeit. Die Verkürzung der Dauer von der Entlassung bis zur DRG-Freigabe und bis zur Faktura durch diverse Prozessoptimierungen wie etwa fallbegleitendes Kodieren und häufigere Abrechnungen hatten deutlich positive Auswirkungen auf die Liquidität des Unternehmens.
Was sehen Sie im Moment als die großen Herausforderungen für die nähere Zukunft?
Dr. Poppinga: Wir haben den Turnaround nach schwierigen Jahren geschafft und stehen aktuell extrem stabil da. Was aber sehr wohl zukunftsentscheidend wird, ist die Einführung des Pflegebudgets. Die große Herausforderung dabei ist, dass wir derzeit nicht abschätzen können, wo wir nächstes Jahr stehen werden. Im Moment wird das Krankenhaus global über Pflege entschieden, und wenn da letztendlich die Refinanzierung nicht stimmt, haben wir ein Problem. Wir können zwar mit TIP HCe eine Pflegeabgrenzung und eine Rest-DRG-Abgrenzung simulieren, um eine Annäherung an das nächste Jahr zu bekommen, aber solange die Kataloge nicht veröffentlicht sind, tappen wir für das nächste Jahr im Dunkeln.
Der Pflegepersonalmangel betrifft schon viele Häuser. Welche Maßnahmen haben Sie getroffen, um sich beim Pflegepersonal keine Sorgen machen zu müssen?
Herr Gutendorf: Nachdem es am freien Markt keine Pflegekräfte gibt, investieren wir sehr viel in unsere eigene Nachwuchsförderung. Wir haben die Kapazität unserer Krankenpflegeschule verdoppelt und bauen auch sonst die Ausbildung stark aus, auch in den therapeutischen Berufen. Unsere neu gegründete Physiotherapieschule versorgt uns mit AbsolventInnen, die auf unsere ganz speziellen Anforderungen ausgebildet werden und zu uns passen. Wir sind auch der Meinung, dass Pflegepersonal gut und adäquat bezahlt werden muss. Wir haben daher einen eigenen Tarifvertrag mit ver.di abgeschlossen, der nicht nur bei der Vergütung, sondern auch bei den Rahmenbedingungen deutlich besser ist, und gehen daher davon aus, dass wir genügend Pflegekräfte finden.
Artikel vom 25. November 2019